Hintergründe zum Euregio-Lawinenreport von Tirol, Südtirol & Trentino Interview mit Projektbetreuer Norbert Lanzanasto und Christoph Mitterer | SchneeGestöber #5 18/19

Hintergründe zum Euregio-Lawinenreport von Tirol, Südtirol & Trentino Interview mit Projektbetreuer Norbert Lanzanasto und Christoph Mitterer | SchneeGestöber #5 18/19

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Seit der Saison 2018/19 gibt es für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino erstmals eine gemeinsame Lawinenvorhersage. Grenzüberschreitend, mehrsprachig, einheitlich. Ein weltweites Novum. Im Hintergrund wurde dafür mehrere Jahre an der perfekten Umsetzung gefeilt. Wir haben mit den beiden unermüdlichen Projekt-Betreuern Norbert Lanzanasto und Christoph Mitterer vom Lawinenwarndienst Tirol über die Hintergründe zum Euregio-Lawinenreport gesprochen.

Das Logo der neuen Lawinenvorhersage passt sich ebenfalls an seine modernen, grenzüberschreitenden, dreisprachigen Anforderungen an.

LR: Im vergangenen November haben die drei Landeshauptleute die Homepage des Euregio-Lawinenreports offiziell freigeschaltet. Damit werden alle Lawineninformationen der betroffenen Regionen gebündelt und auf einer Internetseite dargestellt. Wie kam es zu der gemeinsamen Lawinenvorhersage von Tirol, Südtirol und Trentino?

Christoph Mitterer: Der Startpunkt für dieses Projekt wurde schon vor einiger Zeit gelegt. Mit der ersten Präsidentschaft von Tirol innerhalb der Europaregion Tirol – Südtirol – Trentino wurden Ideen für gemeinsame Projekte gesucht. Rudi Mair, Leiter des Lawinenwarndienstes Tirol, hatte da schon die Idee eines gemeinsamen Lawinenlageberichts an den Landeshauptmann aus Tirol herangetragen und damit den Stein ins Rollen gebracht. Nach einiger Zeit hat dann Norbert mit Hilfe von Matthias Fink, der die Europaregion Tirol – Südtirol – Trentino im Land Tirol vertritt, einen Förderantrag geschrieben und ihn erfolgreich durchgebracht. Der Startpunkt für die Entwicklung der gemeinsamen Lawinenvorhersage war gelegt. Mit vielen Ideen, Workshops und vielen intensiven fachlichen Diskussionen kam dann ein Konzept heraus, dass auf der einen Seite europäische Standards und Richtlinien in der Lawinenwarnung befolgte, aber auch großen Wert auf eine gewisse Allgemeingültigkeit und Skalierbarkeit legte. Dadurch hatten wir dann ein theoretisches Grundgerüst, auf das wir bei der praktischen Umsetzung immer wieder zurückgreifen konnten.

LR: Wer war beteiligt am Projekt Euregio-Lawinenreport?

Norbert Lanzanasto: Die Projektgruppe ist ziemlich groß und bewegt sich zwischen 15 und 20 Personen. Die hardcore-operative Projektgruppe besteht aus uns beiden und unserem Kollegen Alex Boninsegna in Bozen. Administrativ wird das Projekt von der Europaregion Tirol – Südtirol – Trentino begleitet. Beteiligt waren die Lawinenwarndienste der drei Länder und die Universität Wien mit dem Institut für Geographie und Regionalforschung. Darüberhinaus durften wir mit vielen interessanten Partnern aus Wissenschaft und Entwicklung sowie innovativen Firmen zusammenarbeiten. Die Palette an Partnern reichte von Wetterdiensten, Schneeforschungsinstituten bis zu Webdesign und Dolmetsch- sowie Übersetzungsbüros. Dadurch hatten wir zwar sehr viele Player, aber häufig auch das Glück für verschiedenste Bereiche Spezialistinnen und Spezialisten zu haben und dadurch die Qualität des Projekts zu steigern.

LR: Ein solches Projekt gleicht im Hintergrund einer Mammut-Aufgabe. Alleine, um die gesamten Akteure mit ihren unterschiedlichen Ansichten und der unterschiedlichen Sprache auf einen Tisch zu bekommen und gemeinsam Beschlüsse zu fassen. Wo lagen die größten Hürden und welche Momente waren für euch die Highlights bei der Umsetzung?

Du hast Recht: Die Detailarbeit und Kommunikation im Hintergrund waren teilweise schon sehr intensiv. Wobei wir zugeben müssen, dass die technisch-fachlichen Fragen vor allem zwischen den Lawinenwarnern nie das Problem waren. Da wir mit vielen extrem erfahrenen Warnern zusammenarbeiten durften und Schnee bzw. Lawinen sich überall gleich verhalten, waren die Probleme und deren mögliche Lösungen häufig sehr klar. Entscheidungen wurden da fast ausschließlich einstimmig getroffen. Dinge, die uns Probleme bereitet haben, hatten häufig ihren Ursprung in der Verwaltung, Geschmacksfragen oder Befindlichkeiten – was auch zu erwarten ist, wenn so viele Menschen mit Erfahrung und Verantwortung an einem Tisch sitzen. Allerdings konnten wir alles immer gut klären ohne die Kompromissbereitschaft aller Beteiligten zu arg zu strapazieren. Der Landeshauptmann von Südtirol hat es eigentlich auf den Punkt gebracht: “Am Ende hat jeder gesehen, dass der Euregio-Lawinenreport für alle drei Ländern einen gesteigerten Wert darstellt.“

LR: Wie lange wurde am Euregio-Lawinenreport – intern bekannt als „Projekt Albina“ – gefeilt?

CM: Die Projektantragsphase, die maßgeblich von Norbert bearbeitet wurde betrug ca. ein Jahr. Der richtige Startschuss für das Projekt ist dann am 01. Februar 2017 gefallen. Seitdem wird von uns beiden bzw. von Alex Boninsegna und vielen anderen am Projekt gefeilt. Das Projekt geht dann mit Ende Juli 2019 zu Ende. Der Euregio-Lawinenreport wird dann in eine „echte“ operative Phase übergehen.

Norbert Lanzanasto (l.) und Christoph Mitterer (r.) bei der offiziellen Freischaltung des Euregio-Lawinenreports vor kurzem in Bozen. [icon name="camera" class="" unprefixed_class=""] LPA/Daldos

LR: Grundsätzlich erscheint es einleuchtender, zuerst die Lawinenwarnung innerhalb Österreichs zu vereinheitlichen. Warum finden wir immer noch so große Unterschiede in den Lawinenwarnprodukten in verschiedenen Regionen von Österreich oder Italien, grenzüberschreitend aber nicht?

Mit so einem großen Projekt und der dahinterstehenden Landespolitik war ein gewisses Commitment der drei Warndienste notwendig – und das hat letztendlich zum Ziel geführt. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern und Regionen haben unterschiedliche Ursachen. Diese können technischer, inhaltlicher, aber auch geschmacklicher Natur sein. Nicht ganz unschuldig sind auch die mit Absicht etwas freier formulierten Standards und best-practices der EAWS (Vereinigung der Europäischen Lawinenwarndienste). Wir finden es dabei einfach wichtig, dass für den Nutzer das beste Ergebnis rauskommen soll – danach richtet sich auch unser Euregio-Lawinenreport.

LR: Derzeit spricht man meist vom „Lawinenbericht“, dem „LLB“ oder dem „Lagebericht“ bzw. vom „Bulletin“ in der Schweiz. Was ist eurer Meinung nach die sinnvollste Bezeichnung für dieses Produkt? Könnte sich „Ich schau mir den ‚Lawinenreport‘ an“ als neuer Standardsatz einbürgern?

Lawinenreport hat auf alle Fälle Potenzial und wir denken schon, dass es sich einbürgern kann, da es einfach in vielen Sprachen sehr gut funktioniert. Aber das entscheiden wohl die Nutzer.

LR: Zukünftig handelt sich das Hauptprodukt der Lawinenwarnung nun auch in der Euregio mehr um eine abendliche Prognose für den kommenden Tag, nicht mehr nur um eine Erfassung des Ist-Zustandes der Schneedecke. Warum?

Die Lawinenvorhersage bzw. der Lawinenlagebericht ist eine regionale Einschätzung und Beschreibung der Lawinengefahr. Als solche dient sie der Tourenplanung bzw. nicht zu vergessen der Planung von örtlichen Lawinenkommissionen im Katastrophenfall. Und Planung ist im winterlichen Gebirge einfach die halbe Miete, denn sie sollte eigentlich die Ziele definieren. Je früher ich also mit hoher Qualität planen kann, umso besser kann ich mein Tourenziel verhältnisorientiert anpassen. Außerdem lässt es sich am Abend bei einem Glaserl Wein viel entspannter planen als in der Früh zwischen einem hastigen Müsli, Cappuccino und dem Einpacken des Rucksacks.

Eine weltweit einzigartige Funktion: Gebiete mit einem gewissen Lawinenproblem hervorheben oder wegschalten („dimmen“). In diesem Fall haben wir Gebiete mit einem Altschneeproblem hervorgehoben.

LR: Norbert, du warst als Informatiker für die technische Umsetzung zuständig. Was sind die Errungenschaften in Sachen Benutzerfreundlichkeit, intuitives Erfassen der Informationen und im Handling des neuen Internetauftritts?

NL: Wir konnten bei der Umsetzung in zwei Bereichen ganz neue Wege gehen. Für die Warner bietet das System die Möglichkeit, die Einschätzungen der Kollegen noch während des Verfassens der Lawinenvorhersage zu sehen, sich darüber auszutauschen und gegebenenfalls Regionen gemeinsam zu beurteilen.

Auf der Website werden dann die Informationen zur Lawinensituation kommuniziert, und zwar nur diese. Deshalb konnten wir eine maßgeschneiderte Homepage für die Lawinenwarnung bauen und alles genau darauf abstimmen. Die Europaregion wird in Regionen unterteilt, je nach Schnee- und Wettersituation. Und für jede dieser Regionen gibt es eine gesamte Lawinenvorhersage, von der Gefahrenstufe bis zum Schneedeckenaufbau. Jeder Tourengeher kann sich jetzt die Region aussuchen, die ihn interessiert und bekommt nur die für dort relevanten Infos.

Mit dem neuen Euregio-Lawinenreport hat sich viel geändert. Das bedeutet eine große Umstellung für die Warner, aber auch für alle Leser. Wenn man die alte Seite gewöhnt ist, muss man sich an die neue sicher erst gewöhnen, aber es lohnt sich.

LR: Christoph, dein Part als Schneeforscher waren die naturwissenschaftlichen Aspekte. Wie adressiert Lawinen.report die neuesten Erkenntnisse in der Schnee-Lawinenkunde? In welchen Hinsichten sollten wir unsere gewohnte Denkweise in Sachen Risikomanagement im Schnee dadurch anpassen?

CM: Grundsätzlich sehe ich mich nicht als den puristischen Schneeforscher. Dafür bin ich schon etwas zu weit weg von der hardcore Grundlagenforschung auf diesem Gebiet. Ich habe aber trotzdem immer noch einen guten Überblick über die neuen Erkenntnisse und versuche diese als Multiplikator in das gesamte Warnteam der Euregio reinzubringen. Das betrifft aber nicht nur die Bruchmechanik von trockenem oder nassem Schnee, sondern auch Aspekte der Prognose und Entscheidungsfindung von Expertenwissen im Allgemeinen.

In Sachen Risikomanagement vertrete ich einen Rosinenpickeransatz und bediene mich gerne vom besten und schmackhaftesten aus einer reichlichen Auswahl. Meine persönliche Herangehensweise ist: Risiko für mehrere mögliche Tourenziele in einer Region anhand des Lawinenproblems und der Gefahrenstufe abschätzen, dann vor Ort schauen, ob ich das ausgegebene Lawinenproblem bzw. die Warnungen aus der Gefahrenbeurteilung und dem Schneedeckenteil im Gelände wiederfinde. Und dann ganz einfach das Gelände so schlau wie möglich nutzen: unter 30 Grad im Aufstieg bleiben, Geländefallen meiden, steile Sachen nur einzeln fahren, sichere Haltepunkte ausmachen.

LR: Wisst ihr beide schon, was man trotzdem noch in Zukunft für den Euregio-Lawinenreport verbessern könnte/sollte?

Natürlich sehr viel! So ein Projekt ist nicht wie ein Möbelstück, dass dann irgendwann fertig gefeilt ist. Es ist eher wie ein Lebewesen – es wächst und entwickelt sich weiter. Was genau noch zu verbessern ist, verraten wir nicht, denn wir wollen euch ja nicht den Spaß beim Erkunden nehmen. Seht selbst wie das Ding wächst.

Der Prozess ein möglichst unmissverständliches, umfangreiches und trotzdem reduziertes und anwenderfreundliches Produkt zu kreieren, stellt einen vor Probleme die man sich als Endkonsument kaum vorstellen kann.

LR: Wir hoffen, dass es nur der erste Schritt war, die Lawinenwarnung in den Alpen in Sachen Benutzerfreundlichkeit weiter zu vereinheitlichen. Gibt es bereits neue Ideen, wie man diesem Ziel einen Schritt näher kommt?

Wir denken, dass es zwei Seiten gibt, die sich ständig verbessern werden: Das ist auf der einen Seite der fachliche Inhalt der Lawinenwarnung. Das Prozessverständnis, die Prognose und Einschätzung werden mit zunehmendem Wissen einfach besser. Zudem werden Lawinenwarner immer besser geschult und einheitlicher ausgebildet – was bis heute ja nicht der Fall ist, denn es gibt keine Lehre oder Studium zum ausgebildeten Lawinenwarner.

Auf der anderen Seite wird sich die Kommunikation dieses fachlichen Inhalts immer weiter verbessern. Ziel ist es einfach eine Lawinenwarnung anzubieten, die höchstes fachliches Niveau, eine höhe Trefferquote hat und gleichzeitig von den Lesern so verschlungen und verstanden wird wie ein spannender Bestseller-Krimi.

LR: Ist es denkbar, dass der Euregio-Lawinenreport auf weitere Regionen ausgeweitet wird?

Prinzipiell ja, da es der Anspruch von uns beiden war, in diesem Projekt etwas zu entwickeln, das auf allgemeingültigen Richtlinien aufbaut und das theoretisch in jede Richtung skalierbar ist. Wir laden andere Warndienste gerne ein, drängen uns aber in keinster Weise auf. Im Gegenteil: Wir sind froh, wenn wir den ersten Winter mit den drei Ländern gut über die Bühne bekommen.

LR: Zu euch beiden: Wenn ihr mal nicht im Büro seid um euch über die Verbesserung von Lawinenwarnprodukten den Kopf zu zerbrechen, was sind eure favorisierten Schneearten im Detail? Die Antworten „Pulver“ oder „Firn“ gelten für LWD-Mitarbeiter übrigens nicht, wir wollen es genauer wissen.

Christoph: Da gibt es wohl drei Schneearten bzw. Schneedeckenaufbauten, die ich favorisiere:

(1) 50-60 cm frisch gefallene, schöne sechsarmige Neuschneekristalle mit einer Dichte von 50-80 kgm-3 auf einer Basis aus kleinen runden und kantig, kantenabgerundeten Kristallen, die mit der Tiefe sehr kontinuierlich an Härte zunehmen. Dazu zwei bis drei Freunde, die nach ein paar Schwüngen nach Luft schnappen, weil ihnen die Mischung aus Luft und Eis den Atem nehmen.

(2) 2-3 cm Schmelzformen, aber nur leicht feucht auf einem massiven Schmelzharschdeckel (15 cm dick) Härte 4. Was darunter ist, ist wurscht, Hauptsache sehr steil.

(3) 5 cm aufgefräste, kleine runde Kristalle mit einer Härte 3, darunter dichtester Schnee. Vor mir meine zwei Jungs, dann ich, der versucht ihnen nachzukommen.

Norberts Wunschprofil entspricht auch exakt dem Geschmack des Schneestöberers :-)

Norbert  Am faszinierendsten finde ich schön ausgebildeten Tiefenreif. Wenn die Becherkristalle ihrem Namen alle Ehre machen ist es jedes Mal wieder beeindruckend, dass so etwas entstehen kann.

Wie würde demnach euer perfektes Schneeprofil ausschauen?

Christoph: Von der Härte her schaut mein Profil wie eine perfekte Treppe oder das Logo von Stiegl Bier aus, mit der Ausnahme, dass die letzte Stufe doppelt so hoch ist, wie die anderen. Kornformen von unten nach oben: kleine kantige, dann kleine kantig-kantenabgerundete Kristalle. Darauf kleine Runde und große Neuschneekristalle. Alles furztrocken und kalt.

Norbert: Da kann ich mich anschließen, gleich danach kommt für mich aber folgende Situation: 30 cm aufbauend umgewandelte Kristalle auf nach unten hin immer härter werdenden Schichten aus rundkörnigen Kristallen, Sonnenschein, eiskalt und ein Zischen bei jedem Schwung.

Im Sinne einer weiteren Dezimierung der Lawinenopfer hoffen wir auf einen möglichst einheitlichen Auftritt aller Lawinenwarndienste in den Alpen und auf eine weitere, schrittweise Adaptierung auf die Bedürfnisse des Benutzers. Somit geht euch die Arbeit sicher nicht so schnell aus. Hoffentlich hören wir wieder von euch zwei zum Thema „intensivere Zusammenarbeit weiterer Warndienste in Europa“!

 

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Galerie

Die Entwicklung des Tiroler Lawinenlageberichts von 1960 bis heute

und in der heutigen Form:

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