Gletscherschwund: Zukunftsszenarien & Fotovergleiche vom Hohen Seeblaskogel 2012 – 2022

Gletscherschwund: Zukunftsszenarien & Fotovergleiche vom Hohen Seeblaskogel 2012 – 2022

Lesezeit: 8 min

Derzeit schmilzt auf den Gletschern täglich 10 – 20 cm Eis ab. Das entspricht 100 Liter Schmelzwasser oder 100 Kilogramm Eis pro Quadratmeter. Am Lüsener Ferner mit seinen ca. 3,5 km² gehen damit täglich etwa 350 000 Tonnen oder 350 Millionen Kilogramm Eis den Bach runter.

Die derzeitige Schneesituation auf den Gletschern ähnelt in den letzten warmen Sommern – mit ebenfalls mehrfacher Rekord-Schmelze – dem September. Kurz vor dem hochalpinen Winterbeginn. Heuer aber ist noch nicht einmal der halbe Sommer um.
Während die Gletscher in „normalen“ Sommern der letzten Jahre immer etwa einen Meter Eis – gemittelt über die gesamte Fläche – verloren haben, wird es heuer wahrscheinlich mehr als doppelt so viel werden.

Kann es so überhaupt noch einen Gletscher in Tirol geben?

Im Klima das inzwischen in den Alpen vorherrscht, kann es keine Gletscher unterhalb von etwa 3400 m geben. Wenn es noch wärmer wird, steigt die Grenze natürlich entsprechend weiter an. Die Wissenschaft rechnet derzeit mit einer weiteren Erwärmung von etwa 2 bis 4 Grad. Pro 0,7°C steigt die Grenze um 100 Höhnmeter an. Das heißt, wenn es nochmals um vier Grad wärmer wird, wird es nur mehr oberhalb von ca. 4000 m Gletscher in den Alpen geben. Also nur mehr auf den höchsten Bergen der Westalpen. Die noch vorhandenen Gletscher bei uns sind Relikte aus einer Zeit mit deutlich kälteren Sommern die nur einige Jahrzehnte brauchen bis sie verschwunden sind.

Unsere Gletscher in Tirol brauchen vor allem kalte, verregnete, oben verschneite Sommer. Die gibt es aber seit Jahren nicht mehr.

Veränderungen bringen nicht nur Nachteile

Und trotz aller Probleme und der Wasserknappheit: Die Menschen lieben die Wärme in den Bergen. Unsere Sommer sind von „verregnet & kalt mit großteils Schlechtwetter samt häufigem Neuschnee bis knapp oberhalb der Waldgrenze“ zu „warm und trocken“ geworden. Genau das, was sich die meisten Menschen vom Sommer psychologisch erwarten. Auf Gipfeln um 3000 m kann man mit verschwitztem T-Shirt in kurzer Laufhose angenehm sitzen während man früher Jacke, lange Hose und eventuell eine Mütze brauchte.

Im Sellraintal werden die obligatorischen Stangger zur Heutrocknung kaum mehr verwendet da sich Temperatur, Taupunkt und die Dauer der niederschlagsfreien Zeitfenster im Sommer stark verändert haben. Die heizfreie Zeit in unseren Dörfern erstreckt sich statt früher von Ende Juni bis Mitte August nun meist von Mitte Mai bis Mitte/Ende September. Das Wachstum im Grünland zündet bei den hohen Temperaturen den Turbo – kaum wer hatte vorher schon einmal so viel Heu in seiner Scheune. Urlauber schätzen die Temperaturen im Dorf auf 1.500 m und flüchten von der unerträglichen Hitze am Strand und in den Städten. Hier bei uns profitieren wir von der Erwärmung auch – als eine der ganz wenigen. Weil noch genug Wasser da ist im Gegensatz zu den Regionen abseits der Berge. Zumindest noch – und das bald auch ohne Gletscher.

Wohin geht die Klima-Reise in den Alpen?

Eine wahrscheinliches Zukunftsszenario: Man könnte sagen, das Gardaseeklima kommt zu uns. Oder man schaut sich mal die Berge des Sierra Nevada – Gebirgszuges und deren Klima in Kalifornien an. Die Winter sind kühl (nicht kalt!) und schneereich. Im Frühjahr stellt sich das Wetter um und es gibt große Schmelzwasserflüsse. Aber es wird extrem trocken und heiß. Im Herbst findet man kaum mehr Wasserläufe – bevor es wieder zu schneien beginnt. Dort gibt es Skigebiete, die oft bis in den Juli hinein geöffnet haben – obwohl es dort auf über 4000 m hohen Bergen keine Gletscher gibt.

Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zukunft der Alpen – unsere Zukunft. Keine so grünen Wiesen im Sommer, sondern karg-felsig-braune Landschaften. Ab einer gewissen Höhe trotzdem mit Schnee und Skifahren im Winter, vielleicht sogar mehr Schnee als bis jetzt der dafür im Frühjahr schneller verschwindet. Das Szenario bringt viele neue Vorteilen und viele neue Probleme.

Fotovergleiche

Die folgenden Fotos stammen vom Hohen Seeblaskogel. Einmal aus dem August 2012, dann vom Juli 2022. Zehn Jahre liegen dazwischen.

Bachfallenferner 2012
Bachfallenferner 2022
Grüne Tatzen Ferner 2012
Grüne Tatzen Ferner 2022
Grüne Tatzen Ferner 2012
Grüne Tatzen Ferner 2022
Längentalferner 2012
Längentalferner 2022
Breiter Grieskogel 2012
Breiter Grieskogel 2022
Hinterer Brunnenkogel & Ruderhofspitze Nordwand 2012
Hinterer Brunnenkogel & Ruderhofspitze Nordwand 2022
Östliche Seespitze mit Kräulferner 2012
Östliche Seespitze mit Kräulferner 2022
Wildspitze & Hinterer Brochkogel 2012
Wildspitze & Hinterer Brochkogel 2022
Zuckerhütl 2012
Zuckerhütl 2022
Mit Schmelzwasser vom Lüsener Ferner gespeiste Wasserfälle im Sellraintal. Derzeit ein unglaubliches Naturschauspiel. Vor allem über die neue Hängebrücke am Weg zum Lüsener Ferner hinauf.
Tag und Nacht rinnt die Gletschermilch durch das Lüsenstal hinaus in Richtung Schwarzes Meer. Wenn der Großteil davon nicht für die Wasserkraft genutzt werden würde, wäre es momentan ein reißender Strom.

3 Gedanken zu “Gletscherschwund: Zukunftsszenarien & Fotovergleiche vom Hohen Seeblaskogel 2012 – 2022

  1. Gibt es gesicherte Erkenntnisse über eine durchgehende Vergletscherung der hohen Alpengipfel seit der letzten Eiszeit, Lukas? Messungen an der Weissseespitze scheinen anzudeuten, dass die Gletscher nicht nur schneller schmelzen als in den letzten 6000 Jahren, sondern auch, dass die Berge in diesem Höhenband vor 5900 Jahren eisfrei waren.

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