Lawinen-Geschichte des Sellraintales Lawinen im Siedlungsbereich

Lawinen-Geschichte des Sellraintales Lawinen im Siedlungsbereich

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Die Region Kühtai–Sellraintal zählt zu den lawinenanfälligsten Gebieten Österreichs und verzeichnet immer wieder schwere Unfälle. Im Mittel kommt hier jährlich eine Person bei Wintersportaktivitäten durch eine Lawine ums Leben.

Was lässt sich aus Jahrhunderten von Menschen und Lawinen im Sellraintal lernen? Wir zeichnen die Lawinengeschichte – zunächst im Siedlungsraum, später im Wintersport – und leiten daraus die wichtigsten Erkenntnisse ab.

Das seit jeher stark von Lawinen gefährdete St. Sigmunder Obertal.

Lawinen – eine natürliche Gefahr der Alpen

Der lawinengefährdete Ortsteil Peida von St. Sigmund im Sellrain in seiner Hochblüte in den 1820er-Jahren. Auch wenn es heute für Einheimische fast unglaubwürdig erscheint: So viele Gebäude gab es damals in Peida tatsächlich. Der gebräuchliche Name zu dieser Zeit war „im Dörfl“.

Lawinen gehören zu den Alpen wie Hochwasser zur Donau. Das hintere Sellraintal zählt zu den höchstgelegenen Ansiedlungen Tirols. Bei uns waren seit jeher die Ortschaften Peida, Gleirsch, Praxmar und Lüsens der Gemeinde St. Sigmund besonders von „gravitativen Massenbewegungen“ – also Steinschlag, Lawinen, Muren – gefährdet.

So berichtet beispielsweise die Tiroler Bauernzeitung vom 10.12.1936 folgendes:

„Am 2. Dezember 1936 vormittags wurde unter Schneetreiben die Leiche des als „Lawinenpfarrer“ bekannten, hochwürdigen Stiftschorherren von Wilten, Ewald Keßler, vom über 1500 Meter hochgelegenen St. Sigmund durch das schon öfter durch Lawinen heimgesuchte Obertal herausgeführt. …“

1428: Erste, urkundlich belegte Lawinenschäden des Sellraintales

Bereits 1428 begaben sich die Bewirtschafter der Schwaighöfe von Peida zum Abt des Stiftes Wilten um die Schäden der Lawinen an den Schwaigen kundzutun. Es handelt sich hierbei um einen der ersten Berichte zu Lawinenschäden in Tirol überhaupt.

15. Juni 1428. Erste Erwähnung von Lawinenschäden im Sellraintal. Rot unterstrichen: „Als von den Lönstrichen wegen den Swaigen … Scheden geschehen sind“. Aus dem Archiv des Stiftes Wilten.

Eine Übersetzung der ersten Zeilen in modernes Deutsch:

Ich Michel Krel (Kröll) von Peida und ich Jordan von Peida und beide Brüder Ulrich und Symon des Schusters Söhne aus dem Brand verlautbaren öffentlich mit diesem offenen Brief für uns und alle unsere Erben und Nachkommen, dass von Lawinenstrichen an den Schwaigen des ehrwürdigen Gottshauses zu Wilten Schäden geschehen sind.

Wir ehrsamen Bau(ern)leut der genannten Schwaigen setzen den ehrwürdigen und geistlichen gnädigen Herren Abt Johannes des würdigen Gotteshauses in Kenntnis. Also hat der genannte unser Herr die Schäden an den genannten Schwaigen mit Herren des Convents beschaut.

Mit den betroffenen Leuten die vorgesprochen haben, wurde niedergeschrieben:

Wir genannte Bauleute und unsere Erben sollen alles räumen und neu zimmern, was die Schneelähnen an Schäden getan haben und sollen auch zugleich eine Arche machen vor dem Wasser das aus dem Gleirschwalde fließt und diese ewiglich miteinander getreu versorgen.

Menschengemachte Probleme mit Lawinen

1. Zurückdrängen des schützenden Waldes durch den Beginn der Ganzjahresbesiedelung

Die hinteren Seitentäler Tirols wurden im Zuge des mittelalterlichen Landesausbaus von saisonal genutzten Almen zu Ganzjahressiedlungen weiterentwickelt. Auch im Sellraintal entstanden die hintersten Siedlungsplätze bereits im 12. Jahrhundert als Schwaighöfe, die fortan von Bauernfamilien ganzjährig bewohnt wurden. Erstmals urkundlich belegt sind Haggen (1153) sowie Peida, Brand, Gleirsch und Praxmar (1305). Damit stiegen der Holzbedarf für Heizung und Neubauten deutlich an; zugleich nahm der Viehbestand nach und nach zu.

Das günstige Klima des Mittelalters lockte den Menschen in solche Höhen. Wobei die Schwaighöfe im Zirmbach und Lüsens bereits im 14. Jahrhundert wieder aufgegeben und zurück zu Almen gewidmet wurden. Der Schwaighof in Kühtai wurde erst um 1850 – zum Höhepunkt der Klimaverschlechterung in der Kleinen Eiszeit – wieder zu einer Alm. Die beiden Gleirschhöfe wurden 1927 nach über 600 Jahren als Dauerbesiedelung aufgegeben. Aber nicht nur wegen dem geringen Ertrag an der Grenze zum Überleben… mehr dazu später.

Ergebnisse von Radiokarbonuntersuchungen aus Bodenprofilen am Sonnberg oberhalb der Brandhöfe von St. Sigmund. Aus den Mitteilungen der forstlichen Bundesversuchsanstalt. Der Brandhorizont im Bereich der Zirmbachalm sind etwa 1800 Jahre alt. Der Brandhorizont am Sonnberg bei St. Sigmund ist zwischen 830 und 1210 entstanden.

Bis heute erinnern die beiden „Brandhöfe“ und der Familienname „Prantner“ in St. Sigmund daran, wie das Urbarmachen von Flächen erfolgt sein dürfte: entweder durch Brandrodung oder durch Räumen und Reuten. Unter Letzterem versteht man das Abholzen des Waldes einschließlich des Entfernens der Wurzelstöcke. Auf diese Weise gewonnene Felder heißen im Dialekt „Rauth“.

2. Niedergang des Waldes durch Übernutzung & die Kleine Eiszeit

Holz war über Jahrhunderte das wichtigste Bau- und Heizmaterial. Der Wald wurde dadurch bereits stark beansprucht. Hinzu kamen weitere Nutzungsformen: Schneiteln (Abschneiden von Ästen) für Streu im Stall, Schwenden zur Freihaltung von Flächen sowie die Beweidung des Waldes, da Rinder im Sommer im Tal blieben und nicht – wie heute – auf Almen getrieben wurden. Durch Verbiss und Trittschäden litten junge Bäume massiv. Zusammen mit Rodungen zur Gewinnung von Weide- und Mähflächen, Streuholen und der Ziegenbeweidung führte dies zu einem anhaltenden Niedergang des Waldes. Über mehrere Jahrhunderte kam es kaum zur Verjüngung: Alte Bestände wurden gefällt, Jungwuchs kam kaum nach oder wurde früh als Stangger (Heumandln) bzw. für andere Zwecke entnommen.

Haggen mit einem noch vollständig baumlosen Sonnberg

Die heutigen Almflächen wurden damals großteils als Bergmähder genutzt. Nach dem ersten Schnitt im Juli (Heu) im Tal folgte das Bergheumähen im August oberhalb der Waldgrenze. Anschließend kehrte man ins Tal zurück, um den zweiten Schnitt  im September (Groamat) einzubringen. Das Bergheu lagerte man in Stadeln oder früher auf Tristen und zog es im Winter ins Tal. Diese Nutzung drückte die Waldgrenze über lange Zeit deutlich nach unten. An den Südhängen oberhalb von St. Sigmund liegt sie heute bei 1900 m, natürlicherweise würde sie dort um 2100 m verlaufen.

Das größte Problem war aber die Ziegenhaltung. Es gibt kein Nutztier, das Bäume derart stark schädigt als eine Herde Ziegen.

Die forstliche Bundesversuchsanstalt fasst die Nutzung des Waldes zusammen:

1. Rodungen zum Zwecke der Weidelandgewinnung, oft durch Brandlegung und meist im Kampfgürtel des bestandesmäßigen Vorkommens, in der Waldkrone.
2. Bau, Brenn-, Zaun- und Schindelholzbedarf der Almen und Dauersiedlungen im Tal, welcher für die Almen durchwegs durch Schlägerungen in der nahen Waldkrone gedeckt wurde.
3. Unbedachte Schlägerung der besten und stärksten Bäume, oft sogar von Samenbäumen, an der Waldkrone oder in lawinen- und murengefährdeten Steilhängen; dadurch dauernde negative Auswahl der stehengelassenen Bäume. Vor kurzem noch tvar man nicht einmal für Brennholzzwecke mit dem verkümmerten Durchforstungsholz zufrieden, sondern suchte ebenfalls immer die besten und stärksten Bäume aus.
4. Waldweide als besonders schädlicher Einfluß und Schneefluchtrechte im Wald. Sie schädigen durch Viehverbiss und Viehtritt den Holzjungwuchs sowie die Wurzeln und Rinden älterer Bäume und verdichten den Waldboden durch Viehtritt.

5. Bergmahd, welche regelmäßig den Jungwuchs an der Waldkrone durch Abmähen vernichtet.
6. Systematisches Ausreißen junger Forstpflanzen an der Waldkrone, wozu in vergangenen Jahrzehnten im Pitztal die Schuljugend aufgeboten wurde (!).
7. Waldstreugewinnung, welche dem Waldboden den natürlichen Dünger entzieht und Wurzeln und Jungwuchs durch Rechen verletzt.
8. Das besonders im Sellraintal betriebene Schnaiteln der Bäume, d. h. Abhacken der Äste fast bis zur Krone, wodurch die Bäume an Lebenskraft verlieren.
9. Holzziehen und -treiben durch Vertikalschneisen, wodurch der Waldboden zerrissen wird und die Gefahr der Murbildung entsteht.
10. Heuziehen im Winter, wozu bei eisigen Wegverhältnissen jährlich in manchen Talgegenden (Sellrain) hunderte Fichtenwipfel abgehackt und als Bremsen (,,Rösl“) verwendet werden.
11. Strauchbrennen oder -hacken über der heutigen Waldgrenze, wodurch die Ausbreitung von Gehölzen über die Waldgrenze hinaus verhindert wird und außerdem Hangbrüche ausgelöst werden.
12. Huftritt über der Waldgrenze, besonders durch Schafe, welcher bei Überbestoßung der Almen zur Murbildung und zu Murbrüchen gegen den tiefer liegenden Wald führen kann.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Sellraintaler Holz bis zur Saline nach Hall getriftet wurde. In den Mitteilungen der forstlichen Bundesversuchsanstalt von 1957 wird berichtet: „Hinzuzufügen wäre hier noch, daß der Landesfürst bei der Vergebung von Lehen sich das Forsteigentum Vorbehalten hatte, den Bauern und Klöstern wurden nur Mitbenützungsrechte im Wald (Servitute) eingeräumt. So wurde der Sellrainer Wald auch zur Deckung des Holzbedarfes der Saline Hall herangezogen, wie Rechnungen der Saline von 1300 beweisen, aus welchen zu entnehmen ist, daß für sie in den Wäldern an der Melach Holz geschlagen und getriftet wurde.“

Die ehemals völlig waldfreie Südseite von St. Sigmund bis nach Kühtai – heute unterbrochen von der Aufforstung oberhalb von Haggen in Bildmitte – sowie vielen, einzelnen, natürlich nachwachsenden Bäumen. Diese werden in wenigen Jahrzehnten ebenso einen Wald bilden.

Die bis in die 1960er-Jahre noch völlig waldfreien Südhänge von St. Sigmund bis nach Kühtai waren besonders außergewöhnlich. Ein stark zurückgedrängter Wald wäre dort zwar zu erwarten – aber gar kein Wald auf einer Länge von vier Kilometern ist doch etwas ungewöhnlich in einer Höhenlage von 1600 bis 2000 m. Wissenschaftler der Uni Innsbruck konnten das Rätsel vor vielen Jahren  lösen. In mehreren Bodenprofile zeigte sich von der Zirmbachalm bis nach Haggen durchwegs ein Brandhorizont. Eine Brandrodung – vielleicht sogar die oben beschriebene kurz nach Christi Geburt – dürfte dabei in einem trockenen Frühjahr oder Herbst außer Kontrolle geraten sein und zerstörte damit den gesamten Wald auf der Sellraintaler Südseite auf einer Länge von etwa vier Kilometern!

3. Erste Schritte zu einer lokalen Verbesserung durch Regulierung und Bannwälder

Die Brandrodung schien derartige Ausmaße anzunehmen, dass man sie mit der Zeit untersagen musste. Vielleicht hat man die daraus entstehenden Gefahren zum Teil schon damals erkannt. Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammen jedenfalls die ersten Brandrodungsverbote durch Herzog Sigmund, dem übrigens auch der Bau der Kirche in St. Sigmund im Jahr 1490 zugeschrieben wird.

Der 1733 verordnete Bannwald bei Haggen ist heute noch in der Alpenvereinskarte als Flurname ausgewiesen.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten die Haggener „mit Holz so abgehaust”, dass der Wald nur mehr aus jungen Bäumen bestand und in Bann gelegt werden musste; inzwischen wurde ihnen Holz anderweitig zur Nutzung angewiesen. Die im Jahr 1733 erlassene Obertaler Waldordnung (Obertal war und ist die unter Einheimischen gängige Bezeichnung für St. Sigmund) untersagte das Schwenden, kontrollierte das Schneiteln und schränkte den Holzbezug ein.

Die Bannwälder, in denen eine Holznutzung meist gänzlich untersagt war, zeugen noch heute in Form vieler Flurnamen davon. So gibt es beispielsweise in der Haggener Schattseite oder in Untermarendebach bei Gries einen „Buwald“ – das ehemalige Dialektwort für einen Bannwald. In heutigen Worten wäre dies ein „Schutzwald außer Ertrag“.

4. Der Wald erholt sich endgültig: Abtretung der Weiderechte für Ziegen, allgemeiner Rückgang der Landwirtschaft & gezielte Aufforstungsmaßnahmen

Spätestens mit einer Professionalisierung der Holzwirtschaft mit einem Hiebsatz (Gesamtmenge die jährlich nachhaltig entnommen werden kann, also maximal so viel wie rechnerisch jährlich nachwächst), dem allgemeinen Rückgang der Landwirtschaft samt Verringerung des Viehbestandes, unzähliger gezielter Aufforstungsmaßnahmen und der letztmaligen Nutzung von Bergmähdern Ende der 1960er-Jahre konnte sich der Wald im Sellraintal in den letzten fünfzig Jahren wieder deutlich erholen.

In einer „Krisensitzung“ zum Waldzustand haben die St. Sigmunder Bauern beispielsweise in den frühen 1960er Jahren ihre Weiderechte für Ziegen abgetreten und sind vollständig auf die Haltung von Schafen umgestiegen.

Ab 1957 wurde der Bannwald oberhalb Paida zur Gänze aufgeforstet und eine Aufforstungs-Versuchsfläche angelegt. Bei Haggen wurde eine Versuchsfläche zwischen 1700 und 1900 m Seehöhe aufgeforstet, die seit 1963 ständig vergrößert wird.

Die jahrelangen Investitionen in die Aufforstung oberhalb von Haggen trägt inzwischen Früchte: 2022 wurde der obere Teil durchforstet.

Die „lawinöse“ Zeitraum vom Beginn der Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert

Weniger Wald = geringerer Schutz vor Lawinen

Durch Zerstörung der Waldkrone und Herabsetzung der Waldgrenze bekamen die meisten der heute für Siedlung und Kultur gefahrbringenden Lawinen und Muren freie Bahn.

Die verhältnismäßig harten, schneereichen Winter in der Kleinen Eiszeit waren also nicht allein für die großen Lawinen bis in den Siedlungsbereich verantwortlich. Die Kombination mit dem über Jahrhunderte massiv zurückgedrängten Wald ermöglichte teilweise erst ein gewaltiges Ausmaß von Lawinen – die sonst vielleicht nicht in dieser Ausprägung passiert wären.

Lawinenunglücke im Sellraintal

1817: Gleirsch

Das Marterl zur Erinnerung an das Lawinenunglück der Gleirschhöfe wurde liebevoll restauriert und hängt heute im Gemeindeamt von St. Sigmund

Um das Jahr 1710 wurde ein Gleirschhof bereits von einer Lawine zerstört, zu dessen Wiederaufbau man das Holz des Kreuzlehner-Waldes entnahm. Mehr ist dazu aber leider nicht überliefert.

Am 09. März 1817 kommt es zum größten, bekannten Lawinenunglück im Sellraintal. Die Gleirschhöfe bei St. Sigmund werden von einer Lawine erfasst, zwei Höfe weggerrissen, der dritte stark beschädigt. Zehn Menschen sterben. 83 Stunden nach dem Lawinenabgang konnte eine Frau noch lebend geborgen werden. Ein restauriertes Marterl – das einst im „Kirchroan“ bei St. Sigmund stand und sich mittlerweile im Gemeindeamt von St. Sigmund befindet – erzählt noch heute davon.

1817 dürfte in den gesamten Alpen eines der schlimmsten Lawinenjahre in der Menschheitsgeschichte gewesen sein. Man findet dazu unzählige Berichte von todbringenden Lawinen von Anfang März aus ganz Tirol, Vorarlberg, Salzburg und der Schweiz. In Tirol gab es mindestens 40 Todesopfer.

Dieser Lawinenwinter ist durch das vorangegangene „Jahr ohne Sommer 1816“ besonders grausam für die damalige Bevölkerung gewesen. Nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora im April 1815 kühlte sich das Klima durch Asche und Staub in der Atmosphäre – zusätzlich zur ohnehin gerade vorherrschenden „Kleinen Eiszeit“ – nochmals für einige Jahre deutlich ab. In den höheren Tälern Tirols sind die Felder im Sommer 1816 erst im Juni vollständig ausgeapert und es soll zwanzig Mal in diesem Sommer auf die grünen Wiesen geschneit haben. Oberhalb der Waldgrenze sei der Schnee im Sommer 1816 nicht abgeschmolzen. Ganz Europa wurde im darauffolgenden Jahr 1817 von unglaublichen Hungersnöten getroffen – und dazu noch die Lawinensituation von Anfang März 1817…

 

Die Gleirschhöfe wie sie nach dem Wiederaufbau 1817 bis zu einer Mure 1975 bestanden haben. Der nördlichste Hof, hier links am Bild, war immer der am stärksten betroffene.
Der Bericht zur Lawinenkatastrophe im Gleirschtal im Boten von Tirol vom 13.03.1817

1817: Die Lawine auf das Widum in Gries

Das Widum von Gries wurde einen Tag nach dem Ereignis im Gleirschtal ebenfalls von einer Lawine getroffen. Steht man heute vor dem Pfarrhof (Widum), kann man kaum glauben, dass eine Lawine bis hierher vordringen kann.

Die Höhe des Lawinenkegels ist heute noch – ähnlich wie eine Hochwassermarke – an der Hinterseite des Hauses abzulesen. Sogar bei der darunterliegenden Kirche wurde noch ein Fenster eingedrückt.

1850er: Bergbauernkinder im lawinensicheren Pfarrhaus von St. Sigmund

Um sich in den 1850er- und 1860er-Jahren vor den Lawinen im waldarmen Sellrainer Obertal zu schützen, gingen die stets gefährdeten St. Sigmunder Bergbauern mit Kind und Kegel zum Pfarrhaus am sicheren Kirchhügel. Der berühmte Adolf Pichler (1819–1900) schrieb dazu als Zeitzeuge in seinem 1906 postum erschienenen Werk folgende Zeilen:

„Ich stieg rasch vom Gleirschjöchl thalab, dem Bach entlang eilte ich nach St. Sigmund und kehrte dort in Kasslee, dem ehrwürdigen Kuraten, ein. Der Mann war eigentlich aus dem Kloster Wiltau, hatte sich jedoch frühzeitig auf das Land versetzen lassen und war in die abürstigen [abgelegenen] Winkel des Tales, zur Erfüllung seiner Pflicht gern.

Die Zeit der Angst ist der Winter. Nur Widum und Kirche, zu deren Erbauung der listige Herzog Sigismund, der gern zu jagen pflegte, beitrug, sind vor Lawinen sicher; die übrigen Häuser der Gemeinde schützt selbst der Bannwald kaum, durch den der rollende Schnee oft tiefe Furchen frisst, Steine und Bäume im wilden Durcheinander ins Thal schleppt. Vor einigen Jahren schien sich der Himmel über Sellrain ausschütten zu wollen; bald lag der Schnee so hoch, daß man keinen Zaun mehr erkannte, und noch immer flogen die Flocken im sausenden Sturm daher. Die Tannen ächzten, schon hörte man es an den kahlen Stellen des Hochgebirges krachen, da packten die Bauern der am meisten bedrohten Höfe ihre Kinder zusammen und trugen sie in den Widum zum guten Kasslee. ‚Das wird man‘, erzählte er mir leicht erdichtend, ‚in einem katholischen Widum auch nicht oft sehen, eine Stube voll Wiegen mit schreienden Kindern darin!‘ Damit war freilich nicht allem Unheil vorgebeugt.“

Ebenso gibt es folgende Zeilen in den Mitteilungen der forstlichen Bundesversuchsanstalt: „Ein alter Bauer von den Brandhöfen in St. Sigmund-Paida erzählte die kuriose Begebenheit, daß sein Großvater seinen Vater, der damals noch ein Bub gewesen ist, im Rucksack hinüber zur Kirche getragen hätte, als um 1850 die Hofbewohner wegen der drohenden Lawinengefahr über einige Nächte abwandern mußten.“

Der große Lawinenwinter 1951

Die großen Lawinenwinter 1951 und 1954 sind Teil österreichischer, alpiner Geschichte. 1954 war vor allem Vorarlberg betroffen, 1951 weite Teile der Ostalpen.

Mein Großvater erzählte, in seinem Leben habe er die größte Schneemenge im Sellraintal im Jahr 1951 gesehen. Laut seinen Erinnerungen glich das gesamte Sellraintal Ende Jänner einer einzigen Lawinenablagerung: Alle denkbaren Lawinenstriche – auch solche mit sehr geringen Wiederkehrperioden – sollen 1951 abgegangen sein.

Viele der Waldschneisen wurden in diesem Jänner im Jahr 1951 letztmalig von großen Lawinen leergeräumt. So zum Beispiel die Hasental/Aherbach-Lawine oberhalb des Weilers Bichl in Gries. Erkennbar ist dies noch heute an den dem Alter entsprechenden Jungwäldern in diesen Schneisen.

Auch die Auslauflängen erreichten Ausmaße, wie sie einmal in hundert Jahren oder noch deutlich seltener vorkommen. Über den „Agnesfall“ kurz vor Praxmar sprang die Lawine beispielsweise auf die andere Talseite bis zur heutigen Landesstraße hinauf.

Gries mit der Aherbach-/Hasental-Lawinenschneise im linken Bildbereich in den 1960ern. Foto: Sammlung Risch-Lau, Vorarlberger Landesbibliothek
Im Anbruchgebiet der Aherbach-Lawine westlich des Weißsteins wurden inzwischen die größten Lawinenverbauungsmaßnahmen des Sellraintales errichtet.

Im Sellraintal waren 1951 drei Tote zu beklagen: Im Bereich von Untermarendebach ist die sonnseitige Lawine im Judstal bis zur Straße im Talboden vorgedrungen. Eine Gruppe Einheimischer konnte damals früh genug aus einem Auto auf der Sellraintalstraße fliehen. Nur eine Person blieb im Jeep zurück: Ein 74-jähriger Herr mit einem Fußleiden – der alte „Bucher“ von St. Sigmund – konnte das Fahrzeug nicht rechtzeitig verlassen und starb. Derselbe Lawinenstrich hat im 19. Jahrhundert bereits einen Stall in Obermarendebach in Gries zerstört.

Am 20.01.1951 riss eine gewaltige Lawine vom Zischgeles kommend den Stammhof des heutigen Alpengasthof Praxmar (der am heutigen Buswendeplatz stand, damals „Alpengasthof Fernerkogel“) zur Hälfte weg.Die Trümmer und der Lawinenkegel kamen im Moos im Bereich der Fischteiche zu liegen. Zwei Menschen, die Oma und die Schwester vom heutigen Seniorwirt Luis Melmer, verloren dabei ihr Leben.

Wenn man sich das hunderte Meter lange, kupierte, recht flache Gelände rund um die Moarleralm in Praxmar anschaut, die diese Lawine damals überwunden hat, wird einem bewusst, welch riesige Lawinen überhaupt möglich sein können. Eben nur entsprechend selten.

Der von der Zischgeles-Lawine 1951 zerstörte Stammhof des Alpengasthof Praxmar. Der heutige Senior-Wirt Luis Melmer hat sich damals als junger Bub mit dem Großteil seiner Familie im gerade neu erbauten Alpengasthof wenige Meter rechts vom Bild aufgehalten. Seine Schwester ging kurz vor der Lawine in den Bauernhof um der Oma einen Tee zu bringen. Beide kamen ums Leben. Foto: Familie Melmer

Ein Praxmarer wollte zum Zeitpunkt des Lawinenabgangs oberhalb bei der Wasserfassung des damaligen E-Werkes nach dem Rechten sehen als die Lawine ins Tal donnerte. Er duckte sich unter einem Felsen, die Lawine ging über ihn ab. Er blieb vollkommen unverletzt.

Die Chronik von St. Sigmund aus dem Archiv des Prämonstratenser Chorherrenstiftes Wilten berichtet zu 1951 berührende Zeilen:

29 Lawinen-Todesopfer in der Gemeinde St. Sigmund von 1800 – 1957

Im März 1957 wertet der damalige Pfarrer das Sterbebuch von St. Sigmund mit Beginn des Jahres 1800 aus und zählte in diesem Zeitraum 29 Todesopfer durch Lawinen.

Bemerkenswert, bei einer Einwohnerzahl die seit Jahrhunderten zwischen 150 und 180 Personen schwankt. Und in der Hinsicht, dass Skifahren bzw. Skitourengehen und somit touristische Lawinenunglücke noch kaum eine Rolle gespielt haben.

 

 

Feber 1970: Das Lawinenunglück von Peida

Das letzte, große Lawinenereignis im Siedlungsbereich des Sellraintales mit Todesopfern ereignete sich im Februar 1970. Nach starkem Schneefall mit Sturm regnete es über die Waldgrenze hinauf. Am Abend des 21.02. ging der Hauslehner in Lüsens ab, beschädigte den Alpengasthof Lüsens und zerstört mehrere Zubauten und einen Stall. Die Lawine sprang über die Geländekante oberhalb des Alpengasthofs, ließ dabei ein Stück Wald stehen, traf wieder am Boden auf und drang über die Fenster in die Küche ein.

In den späten 1980ern wurde der Alpengasthof Lüsens dann durch einen künstlichen Erdwall geschützt.

Am 22.02. gegen 18:00 löste sich die Firstrinnen-Lawine zwischen St. Sigmund und Haggen und verschüttete die Sellraintalstraße auf einer Länge von 130 Metern. Auch der Kreuzlehner  zwischen St. Sigmund und Gries und der Pirchlehner gehen in diesen letzten Februartagen ab und verschütten die Landesstraße.

In der  Nacht auf den 23. Feber 1970 löste sich vom Peider Sonnberg um 2 Uhr morgens die verheerende Lawine welche den Gasthof Alpenrose vollständig zerstört und vier Menschen das Leben kostet. Im Haus hielten sich in jener Nacht 12 Personen auf, davon vier Gäste die von der Senior-Wirtin aufgrund der Lawinengefahr in einer Dachbodenkammer untergebracht worden sind und dadurch wohl überlebten.

Während des Lawinenabgangs regnete es stark. Eine Nachbarin stillte ihr Baby als das Licht ausging. Sie weckte darauf ihren Ehemann, damit dieser den vermeintlichen Fehler beheben konnte. Als er zum Fenster hinausblickte, sah er, dass das Nachbarhaus verschwunden war.

Das Gebäude wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet und existierte damit nur etwa 90 Jahre lang. Es war der letzte Hof der in Peida gebaut wurde. Der Lawinenstrich oberhalb war zwar bekannt, aber es mangelte an Bauplätzen und ein Bauverbot wie heute in einer roten Gefahrenzone gab es damals noch nicht.

Der zerstörte Gasthof Alpenrose in Peida im Feber 1970. Bericht in DIE BUNTE vom März 1970.
Der ehemalige Gasthof Alpenrose in Peida im roten Kreis.  Die linke, große waldfreie Schneise ist die Pürstling-Lawine mit dem Sargenhof im grünen Kreis. Oberhalb des Gasthof Alpenrose die Hirschbichl-Lawine samt ersten Versuchen zur baulichen Regulierung der Schneeverfachtung durch den Wind. Foto: Sammlung Risch-Lau, Vorarlberger Landesbiblitohek

Meine Oma war von diesem Ereignis 1970 noch sichtlich traumatisiert – noch fünfzig Jahre danach. Sie hat mir im Sommer 2020 von diesem schrecklichen Erlebnis erzählt. Für mehrere Tage war der Stützpunkt der Rettungsmannschaften unser ursprüngliches Bauernhaus in Peida. Feuerwehrmänner aus dem Dorf, zahlreiche Helfer aus dem Tal und vom Bundesheer wurden von ihr damals versorgt und bekocht während sie nach den Verschütteten unter den Trümmern des Gasthof Alpenrose suchten. Eine überaus traurige Geschichte hat sie dabei am stärksten belastet: Ihre Nachbarin aus dem zerstörten Haus war zum Zeitpunkt des Lawinenabgangs mit dem Stillen ihres Babys beschäftigt. Sie wurde von einem Holzbalken auf ihr Baby gedrückt und konnte spüren, wie ihr Kind langsam unter ihr erstickte – ohne sich selbst irgendwie bewegen zu können.

Auch meinem Vater sind die Erlebnisse von 1970 noch lebhaft in Erinnerung. Als damals Elfjähriger wurde er aufgrund seiner Körpergröße eingesetzt, um überlebende Nachbarkinder zwischen Balken und Schnee herauszuholen. Am Nachmittag nach der Lawine auf den Gasthof Alpenrose donnerte die Lawine vom Pürstling auf der westlichen Seite der Häuser in Peida zu Tal. Inzwischen gab es tiefblauen Himmel mit sehr hohen Temperaturen. Mein Vater wurde von inzwischen eingeflogenen Bundesheer-Soldaten ins sichere Haus gerissen als die Lawine kam. Ein großer Teil dieser dieses Lawinenkegels blieb im Feld unserer Familie liegen und musste im Juli per Schubraupe auseinandergeschoben werden um im ersten Sommer überhaupt vollständig abschmelzen zu können.

Eine Arbeit der Forstlichen Bundesversuchsanstalt über die Lawinenereignisse im Winter 1969/70 berichtet wie folgt: „Die Rettungsarbeiten wurden durch die anhaltenden Regenfälle und die dadurch weiter akute Lawinengefahr und den Stromausfall sehr erschwert. Die Lawine bricht fast jährlich ab, bereits im Jahre 1935 wurde die Rückwand des Hauses eingedrückt, ebenso in den Jahren 1951 und 1956. Im Abbruchgebiet befand sich eine ältere, zum Teil verfallene Verwehungsverbauung, die seinerzeit Versuchszwecken gedient hatte. Die Verbauung war nur teilweise wieder in Stand gesetzt worden, sollte aber ausgebaut werden.“

Ein Orthofoto von Peida und des Peidaer Sonnbergs vom Herbst 1969: Grüner Pfeil = Gasthof Alpenrose. Rote Pfeile: In den Jahren 1968-1969 wurde  – ausgehend von einer Heuseilbahn – mit dem Bau eines Zugangsweges durch meinen Großvater und andere St. Sigmunder begonnen, um die Hirschbichl-Lawine  verbauen zu können. Roter Kreis: In den 1950er-Jahren versuchsweise errichtete Verwehungszäune zur Steuerung der Schneeverfrachtungen. Rosa Kreis = Anbruchzone der Lawine. Foto: Land Tirol
Viele helfende Hände am Lawinenkegel des Gasthof Alpenrose am Tag nach dem Abgang. Foto: Feuerwehr Zirl
Blick auf den mittlerweile großteils zugewachsenen Lawinenstrich und die Verbauungen darüber am Hirschbichl. Die Gedenkkapelle zur Lawinenkatastrophe von Peida steht einige Meter östlich des Standorts des ehemaligen Gasthof Alpenrose

Die Hirschbichl-Lawine nach einem kleineren Abgang in den 1990ern.

Im Sommer 1970 begann man sofort, den Ortsteil Peida hinter der Kirche unterhalb des Mutenkogels neu anzusiedeln. Die bitterarmen Bauernhöfe aus dem nunmehrigen Alt-Peida wurden durch den aufblühenden Tourismus in Neu-Peida zu großen Pensionen und Gaststätten. Darunter auch der heutige Alpengasthof Ruetz meiner Familie.

Schlussendlich dauerte es einige Jahre bis Lawinenabgänge auf Peida wie in den Jahren 1428, 1935, 1951, 1956, 1970 technisch möglichst abgewehrt werden konnten. Die Planung des bis dato letzten, großen Verbauungsprojektes im Sellraintal zum Lawinenschutz begann in den 1990er-Jahren, der Bau dauerte von 2000 bis 2021. Mehr dazu hier.

Die Investition von insgesamt 4,5 Millionen Euro sollen nun dafür sorgen, dass die Hirschbichl-Lawine nur mehr etwas für Chroniken wie diese ist.

Der Sargenhof in Peida: oft verlähnt, aber immer glimpflich davongekommen

Einen Tag nach dem Abgang der Hirschbichl-Lawine ging wie oben beschrieben wenige Meter westlich von Peida untertags die Pürstling-Lawine in einem unglaublichen Ausmaß ab. Der Sargenhof kam wie bereits im Jahr 1428 mit verkraftbaren Schäden davon, wie die anfangs erwähnte Urkunde des damaligen Bewirtschafters Michael Kröll belegt.

Hier der eingelähnte Sargenhof und die Reste eines zerstörten Stadels von der Pürstling-Lawine vom Nachmittag des 23.02.1970. Die Schäden hielten sich hier in Grenzen. Foto: Familie Praxmarer
Eingelähnter Sargenhof. Foto: Familie Praxmarer
Am 12.02.1945 ging die Pürstling-Lawine schon einmal knapp vor dem Sargenhof ab. Die Kirchenchronik der Gemeinde St. Sigmund berichtet dazu. Foto: Archiv Prämonstratenser Chorherrenstift Wilten.

Schäden an Leib und Leben durch Lawinen sind vom Sargenhof in Peida nicht bekannt, immer „nur“ an Haus und Hof. Aber zu den dokumentierten Lawinen von 1428, 1945 und 1970 auf den Sargenhof gibt es sicher noch einige Abgänge, die nicht archiviert wurden.

 

Drei mal überlebt: Lawine, Hubschrauber-Bruchlandung, gefährlicher Abstieg 

Eine Alouette III. Foto: Martina Sindhuber

Zu den Lawinen vom Februar 1970 in Peida gibt es eine erheiternde Geschichte. Gäste des zerstörten Gasthof Alpenrose wurde per Helikopter ausgeflogen. Der Hubschrauber erlitt eine Bruchlandung oberhalb von Gries im Bereich des Jöchleggs – vermutlich wegen eines Pilotenfehlers aufgrund zu geringer Flughöhe. Alle sieben Insassen der Alouette 3 überlebten, praktisch ohne Verletzungen. Sie konnten sogar noch mehrere hundert Höhenmeter über extrem steile Hänge bei höchster Lawinengefahr sicher nach Gries absteigen.

Eine Urlauberin, die im Hubschrauber saß und aus St. Sigmund ausgeflogen werden sollte, scherzte: „Den Lawinenabgang habe ich überlebt, den Hubschrauberabsturz auch, den Abstieg bei höchster Lawinengefahr auch – aber meine Antibabypille habe ich jetzt im Hubschrauber vergessen.“

Die Alouette lag dann relativ lange auf ihrer Absturzstelle und wurde von einheimischen Kindern zum Spielen verwendet. Erst einige Jahre später wurde das Wrack geborgen.

Ein Zeitungsbericht vom Feber 1970 zum Lawinenunglück von Peida.
Der sofortige Versuch den Hubschrauber nach dem Absturz zu reparieren, endete wiederum in einem Lawinenunfall . Das Wrack blieb darauf mehrere Jahre dort liegen ehe es geborgen wurde.

1970er: Die Kaseralm im Fotschertal

In den 1970er-Jahren, möglicherweise auch im Feber 1970, wurde die Kaseralm im Fotschertal von einer Lawine bis auf die Grundmauern niedergerissen. Sie wurde nicht mehr aufgebaut. Die Mauern sind heute noch unterhalb des Weges bei der Abzweigung Furggesalm-Potsdamer Hütte sichtbar.

Die Kaseralm im Jahr 1963. Foto: Sammlung Risch-Lau, Vorarlberger Landesbibliothek

„Galtür-Winter“ 1999

Im Lawinenwinter 1999 kam es zwar auch im Sellraintal zu einigen größeren Lawinenabgängen – zu geschädigten Personen glücklicherweise nicht.

Die Narötzer Lawine in Gries im Sellrain

Die Narötzer Lawine auf den Osthängen der Freihut ging am 22.02. frühmorgens in einem gewaltigen Ausmaß ab. Luftdruck und Schneesturm beschädigte den 300 Meter entfernten und 40 Höhenmeter weiter oben am Gegenhang gelegenen Gasthof zum Alpenverein stark. Fenster wurden samt den Fensterstöcken ins Haus gedrückt.

Schäden durch die Druckwelle der Narötzer Lawine 1999 am Gasthof Alpenverein. Foto: Familie Kirchebner
Die Narötzer Lawine vom 22.02.1999. Links im Frühjahr während der Schneeschmelze, rechts kurz nach dem Abgang. Der Lawinenkegel befindet sich 300 Meter vom beschädigten Haus entfernt. Fotos: Familie Kirchebner

Wieder einmal: Gleirsch

Sechs Stunden nach der Lawine in Narötz-Juifenau ging eine Lawine auf die Gleirschalm bei St. Sigmund ab. Der nördliche der beiden ursprünglichen Bauernhöfe war wieder einmal betroffen. Die Schäden waren beträchtlich – aber diesmal verkraftbar: Eine zerstörte Kapelle, eingedrückte Fenster und Türen, eine mit Schnee gefüllte Garage, zerstörte Maschinen.

Einen Tag später, am 23.02.1999 kommen in Galtür im Paznauntal 31 und am 24.02. in Valzur sieben Menschen durch Lawinen ums Leben.

Die Lawine vom 22.02.1999 auf der Gleirschalm
Tiroler Tageszeitung zu den Lawinen in Juifenau und Gleirsch 1999

Anomalie Standort Gleirschhöfe

Warum die Gleirschhöfe nicht ein wenig weiter südöstlich errichtet wurden, bleibt wohl ein Rätsel. Hinter den Höfen befindet sich der Stoanlehner – im Sommer ein sehr aktiver Murgraben von der Freihut kommend (hier am Bild). Die Unglückslawinen kamen allerdings allesamt von der anderen Talseite – von der Reiche (Räuhengrat) und vom Mutenkogel von dessen Gipfel dieses Foto aufgenommen wurde.

Interessant bei den Gleirschhöfen auf 1670 m Seehöhe ist ihre Lage bezüglich Lawinen- und Murengefahr. Eine geringfügig versetzte Lage einige Meter weiter südöstlich wäre in Bezug auf Lawinen vom Mutenkogel und Muren von der Freihut deutlich besser gewesen.

Bei kleinen und mittleren Lawinenabgängen spielt dies keine Rolle. Bei Lawinen geringerer Jährlichkeiten mit größeren Ausmaßen stehen die Höfe aber noch im Hauptgefahrenbereich. Warum genau dieser Standort für die ursprünglich ganzjährig bewohnten und bewirtschafteten Höfe ausgewählt wurde, ist mir bis heute nicht klar – vermutlich wurde aber unterschätzt, wie stark die Druckwelle einer großen Lawine noch mehrere hundert Meter vom gewohnten Ablagerungsbereich entfernt anrichten kann.

1975 wurde die Gleirschalm übrigens nach massiven Schäden durch eine Mure von der anderen Talseite vollständig neu errichtet. Damit kam es in Gleirsch zumindest in den Jahren 1710, 1817, 1975 und 1999 zu Schäden bzw. Totalverlusten durch gravitative Massenbewegungen. Die teilweise Auflassung der Dauersiedlung im Gleirschtal an einem der drei ursprünglichen Höfe war eine Folge der Lawine 1817.

Im Jahr 1927 wanderten die letzten Gleirscher wegen der ständigen Lawinengefahr und wegen der geringen, landwirtschaftlichen Rentabilität ab. Die Höfe wurden in eine Alm umgewandelt und sind seitdem nicht mehr dauerhaft bewohnt.

Exkurs: Lahne oder Lähne?

Die Sprachgrenze der Dialektbezeichungen „Lähne/Lehne“ zu „Lahne“ für Lawine befindet ziemlich exakt bei Innsbruck. Das heißt, westlich davon sind es die Lähnen und östlich von Innsbruck sagt man Lahnen. Das Stubaital ist noch bei den „Lehnern“, das Wipptal dann bei den „Lahnern“.

Deswegen sind Lawinenstriche auf den Karten des Sellraintales auch als „Lehner“ oder eben „Lähner“ vermerkt und nicht als „Lahner“.

Im Sellraintaler Dialekt werden Lawinen übrigens streng in zwei Arten unterteilt: „Isch im Wind gången“ und „Dia isch in der Schårre gången“. Für heutige Begriffe ist ersteres eine Staublawine und zweiteres eine Nassschnee- oder Grundlawine.

Noch eine Info am Rande: Das hintere Sellraintal ist der östlichste Bereich mit alemannischem Spracheinfluss in Tirol. So zum Beispiel auch die erhaltene Form „I hun gsäit“ für „Ich habe gesagt“ statt eines weiter östlich üblichen „I hun gsogt“. Oder dem Bergnamen „Mutenkogel“ oder „die Mut“ und die Bezeichnung „muttlt“ für kleine, abgerundete Hörner (meist bei Rindern). Diese Bezeichnungen kommen nur im Sellraintal und westlich davon vor (Hohe Mut, Muttler, Muttekopf, …). 1837 schreibt Beda Weber über die St. Sigmunder, dass ihre Sprache deutlich stärker an das Oberland erinnert als im äußeren Tal. Die Bewohner sagten damals zum Beispiel noch „Barg, Harz, Kapalla“ statt „Berg, Herz, Kapelle“.

Exkurs: Lawinen in Kühtai und Ochsengarten

Nachdem Kühtai zwar kulturell keine – geografisch aber sehr wohl – eine Einheit mit dem Sellraintal bildet, hier noch Ereignisse des Nedertales von Kühtai über Ochsengarten nach Ötz.

  • Die 1922 fertiggestelle alte Bielefelder Hütte unterhalb des Acherkogels wird im Jänner 1951 weggerrisen. Der Keller ist heute noch begehbar und in einer kurzen Wanderung vom Skigebiet Hochötz aus zu erreichen.
  • 1970 geht der „Kreuzlhang“ in Kühtai zwischen den beiden Kanonenrohren in Richtung des Hotel Seiler ab.
  • In den 1970ern wird der Hof von Mareil zwischen Ochsengarten und Kühtai von einer Lawine zerstört.
Die alte Bielefelder Hütte

 

 

Schlussbetrachtung

1953: Die Chronik von St. Sigmund streicht hervor, dass es im vergangenen Winter kein Lawinenunglück gab… Foto: Archiv Prämonstratenser Chorherrenstift Wilten

Lawinen in den Alpen gehören dazu – natürlich oder vor allem auch im hinteren Sellraintal. So wurde die Bevölkerung und ihre Behausungen seit jeher von den verschiedenen Naturgefahren beeinträchtigt: Seien es Schäden an Infrastruktur oder Verletzung und Tod durch Muren, Lawinen, Steinschlag – also die „gravitativen Massenbewegungen“ – gehören zum Alltag in den Bergen. Die Menschen haben damit zu leben gelernt und akzeptieren die Regeln der Natur – auch, wenn sie oft schmerzhaft sind.

Als Außenstehender mag es kaum nachvollziehbar sein, wenn man Häuser oder Familienmitglieder verliert und trotzdem an diesen Orten bleiben und alles wieder aufbauen will. Früher konnten die Risiken nur teilweise vermindert werden. Große Teile des Risikos wurden einfach akzeptiert und in Kauf genommen.

 

Schadenbringende Lawinen im Siedlungsbereich

Kaum mehr denkbar aber niemals vollständig auszuschließen

27.02.2009 Der Bruggnlehner geht auf die Rodelbahn zur Gleirschalm ab. Foto: Matthias Spiegl

Durch die zunehmenden Verbauungsmaßnahmen zum Schutz von Siedlungen sind Lawinen auf Häuser mittlerweile relativ unwahrscheinlich geworden. Das Risiko kann über Lawinen-Ablenkdämme, Stahlverbauungen in den Anbruchgebieten stark vermindert werden – oder aber man nützt die Risikovermeidung durch frühzeitige Evakuierung aufgrund der Empfehlung einer örtlichen Lawinenkommissionen, so wie 1860 bei der Flucht ins Pfarrwidum von St. Sigmund.

Sachbeschädigungen können und werden weiterhin vorkommen und in Jahrhundert-Lawinensituationen ist die vollständige Zerstörung einzelner, sehr exponierter Gebäude nicht auszuschließen. Diese sind bei gewissenhafter Arbeit der Entscheidungsträger vorher immer bereits evakuiert worden.

Was bleibt, sind vor allem todbringende Lawinen im Wintersportbereich. Dazu mehr im zweiten Teil…

Lawinen auf die gesperrte Sellraintalstraße im Bereich der Zirmbachalm. Aufgenommen im Zuge eines Erkundungsfluges während der letzten, prekären Lawinensituation für Infrastruktur im Sellraintal am 24.01.2018
Jänner 2018
Bereits vor den stärksten Neuschneefällen ging am 04.01.2018 eine Lawine im Bereich des Lackentals in der Nähe der Zirmbachalm auf die Straße ab.

Danksagung

Vielen Dank an alle, die mich bei der Aufarbeitung und Erstellung über die Lawinen im Siedlungsbereich des Sellraintales unterstützt haben.

Insbesondere…

  • Meiner Großmutter Anna Ruetz, die mir im Alter von 86 Jahren – wenige Wochen vor ihrem Tod – die Ereignisse von Peida 1970 mit gebrochener Stimme, Tränen in den Augen und unter Dissoziation einmalig erzählte.
  • Meinem Vater Engelbert Ruetz, der die Lawine in Peida 1970 als Elfjähriger hautnah miterlebte. Ebenso für die häufigen Erzählungen über historische Begebenheiten im Tal und Weitergabe der Überlieferungen aus der Familie.
  • Meinem Onkel Leo Ruetz für die Erzählungen sowie Rettung und spätere Überreichung des Familien-Fotoarchives.
  • Georg Praxmarer aus der Familie am Sargen-Hof in Peida für sein Fotoarchiv zur Digitalisierung.
  • Renate Melmer vom Alpengasthof Praxmar für die Fotos. Sowie Luis Melmer für die Schilderung über die Lawine in Praxmar von 1951.
  • Karl Kapferer, Alt-Bürgermeister von St. Sigmund, für die vielen Erzählungen über die Lawinen 1951, 1970 und seine Zeit als Ortsstellenleiter der Bergrettung Gries im Sellrain.
  • Christoph Weber für den Hinweis über die Lawinenmarke am Widum in Gries.
  • Meinem Onkel Herbert Vanleenhove für die Fotos vom Freihut aus.
  • Familie Kirchebner aus Juifenau für die Fotos und Videos aus dem Familienarchiv.
  • Irene Rapp von der Tiroler Tageszeitung für die Zusammenstellung der Berichte.
  • Dem Land Tirol für die vielen digitalisierten Quellen von alten Orthofotos, Matriken über die Gemeindearchive und vieles mehr.
  • Dem Lawinenwarndienst Tirol für die wertvolle Unterstützung.
  • Dem Stift Wilten und Miriam Trojer für die Einsichtnahme in die „Chronik der Gemeinde St. Sigmund“. Sowie für die bereits digitalisieren und öffentlich verfügbaren Urkunden auf Monasterium.net.
  • Georg Jäger für seine unermüdliche Arbeit rund um die Geschichte des Sellraintales und die Naturkatastrophen in Tirol.

 

Hier noch ein paar Gefahrenzonenpläne aus dem Sellraintal zur Veranschaulichung der Anzahl der Lawinenstriche von denen unsere Dörfer betroffen sind.

Gefahrenzonen rot (WR = Wildbach rot, LR = Lawine rot | Verbot von Neubauten) und gelb (WG = Wildbach gelb, LG = Lawine gelb | Neubauten nur unter strengen Bauvorschriften,) sowie die Lawinenstriche (gelblich mit braunem Rahmen).

3 Gedanken zu “Lawinen-Geschichte des Sellraintales Lawinen im Siedlungsbereich

  1. Die Zusammenstellung von Fotos, Karten und Dokumenten zusammen mit den erklärenden Texten war für mich gut verständlich und lehrreich und hat mich beeindruckt. Vielen Dank dafür!

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