MÄRZENGRUND | Kritik | Großes Aussteiger-Filmkino aus Tirol | #DahoamimSellroan Spielfilm aus dem Sellraintal

MÄRZENGRUND | Kritik | Großes Aussteiger-Filmkino aus Tirol | #DahoamimSellroan Spielfilm aus dem Sellraintal

Lesezeit: 10 min

2020 wurde auf der Koglalm und am Bergersee in Praxmar im Sellrain ein guter Teil von MÄRZENGRUND gedreht – ein Film vom Salzburger Regisseur Adrian Goiginger der ab 19.08.2022 in den Kinos in Österreich und Deutschland läuft. Wir waren bei der Innsbrucker Premiere im Zeughaus dabei. Eine klare Empfehlung!

Ich bin kein großer Filmschauer, habe keinen Fernseher in meiner Wohnung. Ganz nach dem Motto „The world is not in your books and maps – it’s out there!“ beschränkt sich meine Zeit vor einem Bildschirm zu weiten Teilen auf meine Arbeit. Hollywood und Blockbuster finde ich Zeitverschwendung.

2020 wurde nach „Das Weihnachtsekel“ 2006, dem Bollywood Agenten-Film „Tiger Zinda Hai“ 2017 und neben regelmäßigen Werbeaufnahmen für Autohersteller in Kühtai wieder einmal ein großer Teil eines Spielfilms im Sellrain gedreht.

MÄRZENGRUND basiert auf einem Theaterstück des Tiroler Regisseurs Felix Mitterer von 2016. Mitterer versteht als einer der ganz wenigen, oder vielleicht sogar als einziger, das Leben in Tirol theatralisch richtig zu zeichnen und auch mit Kritik an richtiger Stelle darzustellen. Das mussten wir uns „geben“…

Die Welt der Tiroler Seitentäler in den 1960ern

Der größte Bauernhof im Zillertal im Jahre 1967. Der Vater Patriarch für den scheinbar nur Besitz zählt. Die Mutter streng, unter dem Vater leidend, aber liebevoll. Zwei Kinder: Elias ist jung und soll bald den Hof übernehmen, seine Schwester wird Lehrerin. Die Pläne des Vaters werden aber jäh durchkreuzt als Elias wochenlang durch eine Depression ans Bett gefesselt ist. Der Grund dafür ist die unerfüllte Liebe zur deutlich älteren Moid, die Herrschaft seiner Eltern und seine geringen Ambitionen für die Landwirtschaft. Elias ist intelligent, aber körperlich nicht so fleißig wie sich sein Vater dies vorstellt.

Eine Einweisung zur innovativen Elektroschocktherapie nach Innsbruck lehnt die Familie ab. Geplagt vom Zustand seines Erben entscheidet der insgeheim nicht nur um seinen Besitz, sondern auch sehr um seine Kinder besorgte Vater, Elias über den Sommer auf die Alm im Märzengrund zu schicken. Der Märzengrund ist ein sanfter Talboden im vorderen Zillertal. Er soll dort alleine auf das Vieh aufpassen und wieder zu Sinnen kommen. Der Versuch glückt. Aber im Herbst will Elias nicht mehr ins Tal und bleibt als Einsiedler auf dem Hochleger wo er sich selbst eine Hütte baut und dort vierzig Jahre lang alleine lebt.

Bildgewaltig

Mit ausgiebigen und vom Licht her gewaltigen Weitwinkelaufnahmen der Sellrainer Berge rund um Praxmar, dem Hafelekar und dem reellen Märzengrund im Zillertal bringt Goiginger eine Ruhe in die sonst aufwühlende und großteils mit negativen Emotionen behaftete Handlung. Man kann sich kaum sattsehen, sie werden nie langweilig.

Als Bergsteiger störend war allerdings die Mischung zwischen Kalk und Urgestein: Die Aufnahmen für das schroffe Gelände wurden am Hafelekar gedreht. Allerdings sticht es sich gewaltig wenn man vorher wunderschöne, sanfte, saftige, bewachsene Almwiesen im Glimmerschiefer sieht und plötzlich steigt Elias im kargen Kalk herum.

Der schneereiche Winter 2020/21 mit dem stärksten Schneefall seit über einhundert Jahren im Sellrain bescherte perfekte Bedingungen für den Dreh. Auch die Abendsonne im Spätsommer und die angezuckerten Berge im Herbst wurden gekonnt in Szene gesetzt – hier war kein Computer am Werk der die Bergspitzen künstlich weiß färbte, alles ist echt und authentisch.

 

Authentizität

Den gesprochenen Dialekt würde ich als gemäßigte Version aus dem ursprünglichen Innsbrucker Raum bezeichnen. Laut dem Regisseur wollten sie die Produktion zuerst in ursprünglichem Zillertalerisch durchführen – was aber wegen allgemeiner Verständlichkeit und vor allem dem Zeitaufwand für die Schauspieler um dies zu lernen, verworfen werden musste. Aber auch so fühlt man sich als Tiroler aufgehoben. Für einen „Fremden“ dürfte es ohnehin als tiefstes Tirolerisch empfunden werden.

Störend waren für mich nur die einzelnen Worte die aus dem Tiroler Unterland entlehnt wurden und so nicht in den Rest des Sprachbildes gepasst haben – wie die ständige Wiederholung von „auffi“ und „obi“ statt eines „aui/oi“ oder früher „auchn/ochn“. Auch die Formulierung „I håb“ gab es so im Tiroler Zentralraum oder im Zillertal nicht. Nur ein oder zweimal hörte man das eigentliche „I hun“ – oder wie ein Zillertaler sagt „I hu“ – für „Ich habe“. Auffällig als Einheimischer waren auch die Unterschiede zwischen den Schauspielern die nicht die selbe Tiefe des Dialektes rüberbringen konnten. Das ist aber Jammern auf hohem Niveau.

In Summe war die Leistung ausgezeichnet, wobei ganz klar Elias‘ Mutter als 100% ursprüngliche Dialektsprecherin im wahren Leben erkannt werden kann.

Filme im Dialekt zu drehen, ist schwierig. Noch schwieriger ist es aber ein authentisches Bild einer Umgebung für eine Person zu zeichnen, in der sie selbst lebt. Als Bauer einer winzigen, hochalpinen Talgemeinde mit einem tiefer Verwurzelung und einem über Jahrhunderte nachweisbaren Familienstammbaum kann ich aber sagen: Diese schwierige Aufgabe ist MÄRZENGRUND definitiv umfassend gelungen! Endlich ein Dialekt-Film der echt wirkt und nicht eine gekünstelte Mischung aus einzelnen Dialektwörtern mit leicht lautlich verfärbtem Hochdeutsch bildet. Denn da sollte man gleich vollständig bei Hochdeutsch bleiben.

Schauspielerische Extraklasse

Die Bewegung und das Ausdrucksvermögen aller Personen sind gewaltig. Nur in einer Szene wirkt es so, als ob Elias dieses Werkzeug noch nicht oft in der Hand hatte: Beim Ausmisten im Stall – so nimmt kein Bauer eine Schaufel in die Hand.

Aussagen wie „Er årbeitet schun – åber er siecht die Årbeit nit!“, „Mein Buabn kriagsch du nit!“, „Nit vor mir giahn!“, die obligatorischen Rauferein auf allen Discoabenden und Dorffesten oder die vorwurfsvolle Trauer der Mutter als am Ende alle Felder verkauft und zu Baugründen gewidmet sind, sind so tausendfach in der Realität vorgefallen oder tun es immer noch.

Tiefgehend

MÄRZENGRUND berührt tief und wird dennoch nicht zum Kitsch. Das Leben der 60er Jahre und die Art wie miteinander auf einem, für damalige Verhältnisse wohlhabenden, Tiroler Bauernhof miteinander umgegangen wurde, wird in einer unglaublichen Deutlichkeit herausgearbeitet: Empathie und Wertschätzung existieren nach außen kaum – aber tief in den Protagonisten haben sie dennoch ihren Platz. Alles scheint vom Negativen getrieben zu sein: Größenwahnsinn, Erfolgsdruck, Egoismus, verlorene Liebe. Nur die Freundschaft ist durchwegs der Fels in der Brandung.

Ganz großes Kino

Die musikalische Umrahmung sucht ihresgleichen, setzt genau ein, wenn man sie erwartet und hält sich sonst zurück. Mehrere Zeitsprünge und zwei Einblicke aus einer „Metaebene“ sind problemlos nachvollziehbar. Die Kameraführung hollywoodreif.

Die Geschichte ist simpel und großteils melancholisch. Aber dies tut ihrer Wirkung keinen Abbruch. Vielleicht gerade deswegen regt der Film massiv zum Nachdenken an: Was brauchen wir eigentlich wirklich? Sind wir nicht Gefangene gesellschaftlicher Erwartungen – oder Erwartungen unserer Eltern?

Vor allem aber zeigt MÄRZENGRUND zum Ende eines was ich auch im Bergsteigen für ganz zentral halte: Unsere Handlungen beeinflussen nicht nur unser Leben – sondern auch jene unserer Mitmenschen, von denen wir geliebt werden. Man gehört nicht nur sich selbst.

Fazit

Ein berührender Heimatfilm nach der wahren Geschichte von Simon „Koch“ (Hofname, verstorben 2008), überzeugend erzählt, mit komplexen Charakteren die nicht nur schwarz oder weiß gezeichnet werden – samt geschichtlich hohem Wert aus der rauen Sitten- und Gedankenwelt der Menschen vor 60 Jahren in einem Tiroler Tal. Sollte man gesehen haben!

Der alte Elias am Bergersee in Praxmar.

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